Viertes Brevet: 600 Kilometer

Mulhouse, 14./15. Juni 2003, 4.00 Uhr


Was für eine Nacht: Als wir nach 40-minütiger Autofahrt am Stade Peugeot ankommen, steht der Vollmond am wolkenlosen Himmel, es ist so warm, dass die Leuchtweste über dem kurzärmeligen Trikot fast schon zuviel des 400 kmGuten ist. Wir trinken noch einen schnellen Kaffee im Sportheim, obwohl die Anspannung vor dieser letzten Qualifikation über sechshundert Kilometer allein schon ausreicht, um den Kreislauf auf Trab zu halten. Wieder einmal liegt eine fast schlaflose Nacht hinter mir; vielleicht ist es so, wie Benoît später zu mir sagt: wer vor so einer Tour ruhig schlafen kann, braucht sie nicht mehr zu fahren.

Dreiundzwanzig Teilnehmer, darunter drei Frauen, sind noch am Start. Als um vier Uhr das Zeichen zum Aufbruch gegeben wird, schnellt das Feld wie ein Pfeil in die Nacht. Der Fahrtwind sorgt für angenehme Abkühlung, selbst zu dieser frühen Stunde.400 km

Wir werden an diesem Wochenende einen Gutteil des französischen Ostens unter die Räder nehmen, von Belfort im Südosten, das wir gegen fünf Uhr morgens hinter uns lassen, bis Bar-le-Duc, dem westlichsten Punkt. Gesprächsfetzen in französisch, elsässisch und deutsch durchdringen die Nacht, die aufgekratzte Stimmung macht die Fahrt kurzweilig. In Luxeuil-les-Bains, dem ersten Kontrollpunkt bei Kilometer 113, treffen die Grüppchen gegen acht Uhr beim kurzen Kaffee zwischendurch wieder aufeinander. Sobald die erste Gruppe von vier, fünf Pedaleuren aufsitzt, schließen wir uns an – nach einer großen Pause steht uns beiden nicht der Sinn, zuviel liegt noch vor uns. Die Fahrt in dieser Gruppe ist unruhig,  immer wieder werden400 km plötzliche Tempoverschärfungen gefahren. Später übernehmen Axel und ich einen guten Teil der Führungsarbeit und sorgen für etwas Konstanz, was es mir erleichtert, auf diesem Terrain, wo eine Bodenwelle der anderen folgt, meinen Rhythmus zu finden. Weiden und Getreidefelder bestimmen das Landschaftsbild am Ostrand der Vogesen, während die Sonne ohne Nachsicht auf uns herunterbrennt.

Nichts Ungewöhnliches geschieht in diesen Stunden: jeder verrichtet 400 kmseine Tretarbeit so gut er kann, die Blicke wandern von der Landschaft auf den Tacho, vom Tacho über den Vordermann hinweg auf die Straße, von der Straße zum Nebenmann, mit dem ein paar Worte gewechselt werden, vom Nebenmann zum Horizont und dann wieder auf die Landschaft, die links und rechts vorbeizieht. Zahllose Stopps an Brunnen und an Lebensmittelgeschäften, um die Flaschen zu füllen.

In Neufchâteau eine erste Zäsur: ein Drittel der Strecke liegt hinter uns, es ist Mittagszeit  – dem Organismus wird eine erste wirkliche Auszeit gewährt. Mit Nahrungsmitteln eingedeckt strecken wir uns für eine knappe Stunde in einem kleinen Park aus – zunächst zu viert, nach und nach gesellen sich andere aus dem Starterfeld hinzu. Dicke Gewitterwolken am Himmel entladen sich just in dem Moment über uns, als wir den nächsten Abschnitt in Angriff nehmen wollen. Das Paar auf dem Tandem fährt in den prasselnden Regen hinein, für die anderen wird für fünfzehn Minuten ein überdachter Hauseingang zum Refugium: eine Bande verschwitzter, übernächtigter Radfahrer, vereinzelt auf Kartons ausgestreckt – kein Bild für einen Hochglanzprospekt.

400 kmDer Nachmittag bringt die Sonne zurück, es schält sich eine Sechsergruppe heraus mit ähnlichem Leistungsstand, aber unterschiedlichen Fahrweisen: Benoit, der Ungestüme, tritt, wenn es ihn packt, in die Vollen, bis er sich nach zwei, drei Kilometern nach uns umschaut, um immer wieder festzustellen, dass wir weit zurück liegen. Francis, der Ungeduldige, kämpft sich, anstatt zu warten, bis die Führung ihm zufällt, im Wind nach vorn, was ihn unnötigerweise etliche Körner kostet. Jean-Luc, Mitglied im Club des cent cols, im Club der hundert Pässe, ist großartig am Berg und nützt jeden Hügel für eine Demonstration seiner Stärke. Oben dann nimmt er jegliches Tempo raus, um sich hinten einzureihen. Ein weiterer Fahrer, D., hingegen macht, je weiter der Tag fortschreitet, um so weniger Anstalten, seine Position ganz am Ende aufzugeben. Eine interessante Truppe. Aber der guten Stimmung tut dies keinen Abbruch.

Der Wendepunkt ist Bar-le-Duc, abends um acht - sowohl geographisch wie mental die Halbe Strecke nach Paris. Ein Kaffee, bevor es wieder Richtung Osten geht. Eine gute Stunde noch rollen unsere Pneus über die kleinen Landstraßen, streicht die kühlende Abendluft über unsere verschwitzten Trikots, während in unserem Rücken die Sonne hinter dem Horizont verschwindet. St. Mihel: Für die einen Anlaufstelle fürs Nachtquartier, für Axel und mich Gelegenheit, in einer Pizzeria den Fahrradsattel gegen gutbürgerliches Gestühl auszutauschen, den Geschmack der Müsliriegel mit italienischer Pizza zu tilgen. Eine Wohltat. Zu unserer Überraschung gesellt sich D., der Schwächste unserer Gruppe, zu uns. Er wolle die Nacht durchfahren, gibt er uns – etwas verdruckst – zu verstehen. Wir sind baff: er, der sich kaum in unserem Windschatten halten konnte, fährt durch, ganz allein. Denn für uns beide ist klar, dass wir uns bald für zwei, drei Stunden irgendwo ins Gras legen werden. Dennoch zögert er, sich uns anzuschließen, hantiert stattdessen mit seinem Handy rum. Wir wünschen ihm viel Glück, fahren noch eine halbe Stunde, ehe wir, kurz vor elf, in einer Kurve einen kleinen Weg geradeaus nehmen und uns fünfzig Meter von der Straße entfernt ins Gebüsch legen. Um ein Uhr wollen wir weiter, um uns mit dem Rest der Gruppe im nächsten Ort um 1.45 Uhr zu treffen. Ist es die Müdigkeit? Ich stelle den Wecker eine Stunde zu spät. Den kurzen Moment des Zähneputzens genieße ich: fast als würde der ganze Schweiß, die Sonnenmilch, die Mücken, die an mir kleben, mit abgewaschen. Dann ziehe ich den Biwaksack über mir zu.

Noch rund 250 Kilometer warten auf uns, als wir kurz nach zwei Uhr wieder aufsitzen. Sterne blinken, der Mond ist prall gefüllt, die Kühle ist angenehm. Mit jedem Tritt weichen Müdigkeit, Verspannungen, Beschwerden. Nebelfelder liegen über den Tälern. Wir schweben lautlos durch die Nacht.

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Contrexéville. Eine offene Bäckerei, davor drei Räder: wir haben sie wieder, unsere Genossen aus der gestrigen Gruppe; allein D. fehlt. Zu unserer größten Überraschung haben die verbleibenden drei ihn noch kurz vor ein Uhr, nach ihrem Aufbruch von der Jugendherberge in St. Mihel gesehen, alleine, wartend. Der Aufforderung, sich anzuschließen, kam er nach, nur um kurz danach abreißen zu lassen und ein für alle Mal zu abzutauchen. Merkwürdig.

Wir setzten unser trautes Spiel fort: Wie nasses Papier kleben wir aneinander, allein Jean-Luc  macht an den Hügeln immer ein paar Meter gut. Die Steigungen der 400 kmVogesen rücken näher, der Asphalt weicht unter der Hitze auf. Die Luft flimmert. Ein weiterer Stempel in Travéxin, kurz vor dem Col d’Oderen: an diesem letzten Pass, das war Ehrensache, wird noch einmal alles gegeben. Wir verschärfen das Tempo, das Keuchen nimmt zu, der Erste lässt abreißen, dann der nächste. Auch Jean-Luc beginnt zu  ächzen, wir halten rein, so gut es geht, bis auch er zurückfällt, lange vor der Passhöhe auf 883 Metern. Was für ein Spektakel, nach 560 Kilometern in den Beinen! Zur gleichen Zeit passieren Axel und ich den Col, klatschen uns ab, verschnaufen, warten auf die anderen, gönnen uns ein paar Minuten, dann geht es ins Tal. 400 kmMit einem Mal wirbeln die Beine wieder, bei allen ist der Knoten offensichtlich geplatzt: plötzlich klappt der Führungswechsel wieder, wir schießen in die Ebene ein, jagen wie ferngesteuert mit 35 km/h durch die Dörfer, über die Landstraßen, wir riechen Mulhouse, riechen den letzten Stempel durch die verschwitzten Klamotten, durch die Autoabgase hindurch, wir überholen einen Rennradler, er holt auf, hängt sich dran, zieht nach vorn, zeigt uns den Weg durch das Straßengewirr, dreht auf, wir fahren 38, vielleicht 40 Kilometer pro Stunde, quer durch die aufgeheizte Stadt, unter dem schwülen Nachmittagshimmel. Biegen endlich, endlich von der D 39 rechts ab zum Stade Peugeot. 

Über sechshundert Kilometer und 4300 Höhenmeter liegen hinter uns seit gestern früh um vier.

D. hat, wie zu erfahren ist, eine Stunde vor uns seine Stempelkarte eingereicht. Dass er by fair means, mit legalen Mitteln zu seinen Stempeln gekommen ist, ist auszuschließen.

Drei der Starter, darunter zwei der drei Frauen, sehen das Ziel nicht mehr vor dem Kontrollschluss um 20 Uhr. Für sie dürfte der Traum, im August in Paris anzutreten, zuende sein.

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