Bolandoz - Bédoin
Sonntag, 16. März 2008
Es soll uns keiner nachsagen, wir hätten dem Ernst der Lage nicht getrotzt: wir haben den Wecker auf 4:30 Uhr gestellt. Haben eine Banane und einen Joghurt gefuttert, die starren Glieder durchbewegt, die Pferde gesattelt. Und raus ins Vergnügen. Obwohl der Regen aufgehört hat und Sterne am Himmel stehen, dringt das eisige Spritzwasser schon bald bis auf die Haut. Gegen sechs Uhr früh, eine knappe Stunde später, erreichen wir Levier, nicht einmal 15 Kilometer weiter. Wir befinden uns in einer Art Hamsterrad: wir treten und treten und kommen doch kaum von der Stelle, so heftig pfeift der Wind. Wirkliches Fahrvergnügen kommt nicht auf. In Levier sind noch alle Rollladen unten, nur in den Käsereien brennt Licht. Die Hoffnung auf ein Tässchen Kaffee hält mich am Leben. Treten, treten. Die Winterhandschuhe triefen vor Nässe, halten den Lenker umklammert. Es ist empfindlich kalt geworden. Wer zum Teufel hatte die Idee, dieses Mal wieder übers Jura zu fahren? Aber alles Jammern ginge sowieso im Gegenwind unter. Also hält man die Klappe und bemüht sich, dem Leiden einen Sinn abzugewinnen. Nur welchen?
Wir kämpfen uns 35 Kilometer weiter, erreichen gegen halb acht Nozeroy: keine 50 Kilometer in zweieinhalb Stunden. Die Wolkenlücken sind geschlossen, das Thermometer pendelt sich bei 7° Celsius ein. Erneut Regen. In Nozeroy muss ich meine letzte Hoffnung auf Kaffee begraben: der Ort ist ausgestorben. Nur eine Bäckerei erwacht zaghaft zum Leben. Ich bin froh, dass Urban bei der Auswahl seiner Einkäufe hin- und herüberlegt. Jede Sekunde in der warmen Backstube steigert meine Lebensqualität enorm.
Es folgt eine Lagebesprechung im beheizten Automatenvorraum einer Bank, auf dem Boden Landkarten und Brösel von Croissants. Zu unserer Idylle gesellt sich ein Einheimischer, der uns beratend zur Seite steht. Die Schneefallgrenze ist so tief gesunken, dass wir von unserer geplanten Route endgültig Abschied nehmen müssen. Bliebe nur ein großräumiges Umfahren des Jura. Bei den gegenwärtigen Windverhältnissen hieße dies, mindestens einen Tag länger unterwegs zu sein. In dreieinhalb Tagen geht unser Nachtzug in Marseille.
An diesem einschneidenden Punkt erleben wir mitten in der französischen Provinz ein Schauspiel von bedeutendem Ausmaß: den Triumph der niederen Gesinnung über hehres Heldentum, der Triumph der Dekadenz über den eisernen Willen. Wir erleben den Moment, wo der Mensch demütig sein Haupt vor den Gewalten der Natur beugt und bekennt: ich steige in den Zug.
Dieses Szenario war so nicht vorgesehen, aber wir meistern die Angelegenheit mit Bravour. Fünfzig Kilometer trennen uns vom Bahnhof in Lons-le-Saunier. Nach einem Stopp in einem Café erreichen wir - im neu einsetzenden Regen - den Ort um 11.15 Uhr, eine knappe Stunde später geht ein Zug nach Avignon. Wir schaffen es, das Besorgen der Fahrkarten und der Einkäufe für den Tag sowie das Verpacken der Räder in genau dem Maße auszudehnen, dass wir im letzten Moment soweit sind, in den TGV zu springen. Mit Bier stoßen wir an: auf den Süden und (natürlich unausgesprochen) auf den herrlichen Niedergang der Sitten. Im Zug ist es gemütlich warm und ich lege meinen Kopf zurück und mache mein Mittagschläfchen, aus dem ich erst kurz vor Avignon wieder herausgerissen werde.
Avignon ist ein lohnenswertes Reiseziel für alle mit Reiseführer und anständig Geld in der Tasche. Für alle, die Lust am Flanieren haben. Von alledem besitzen wir recht wenig. Statt dessen steuern wir nach Irrungen und Wirrungen direkt auf Bédoin am Fuß des Mont Ventoux zu. War der Himmel bei unserer Ankunft in Avignon noch überwiegend sonnig, so überrascht uns auf dem Weg zu unserem Ziel doch noch ein kräftiger Regenschauer. Dies ist, so scheint es, unser Los. Ein Regenbogen im Osten macht die nassen Füße wieder wett.
Der Campingplatz "La Pinède" in Bédoin ist eine Empfehlung wert. Ein beheizter Waschraum und großzügig angelegte Terrassen inmitten von Schatten spendenden Pinien. Schattenspender sind in unserem Fall zwar überflüssig wie ein Kropf, zur Beschaulichkeit des Platzes tragen sie allemal bei. Vor dem Schlafengehen unternehmen wir noch einen Versuch, beim Bier im Bistro die dort versammelten Dorfschönheiten zu beeindrucken, scheitern aber angesichts der starken einheimischen Konkurrenz.
Strecke: |
152 km |
Zeit: |
7:30 h |
Schnitt: |
20,3 km/h |
Höhendifferenz: |
1293 m |