Bédoin - La Palud

Freitag, 30. Juli 2010  


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Wenn man im Hochsommer morgens mit dem Rad durch Bédoin fährt, meint man, über alle Poren dieses Vibrieren aufzunehmen, das eine Stadt ausmacht, die von Radfahrern belagert wird. Noch sitzen die meisten in den Cafés bei Croissants und Milchkaffee, stehen am Straßenrand, ihre Ketten ölend oder die Beinmuskulatur. Es ist kein besonderer Tag heute, ein gewöhnlicher Freitag in der französischen Provence während der Urlaubszeit. Die Morgensonne hängt just über jener Straße, die nach oben führen wird, ins Reich des Leidens, ins Reich des Triumphierens. 

Um halb sieben hat mich Nachbars Hündchen mit einem dezenten wuff-wuff geweckt, was mir als recht deutliches Signal erscheinen wollte, den heutigen Tag in Angriff zu nehmen. Und so sauge ich kurz nach halb neun die Athmosphäre des Ortes in mich auf, zeitgleich mit Maarten, der fürs Erste nur zur nächsten Bäckerei radelt.am Mont Ventoux

Einmal Bédoin im Rücken, ist es kein übliches Pedalieren. Vor einem ziehen Rennradfahrer die Straße lang. Noch sind sie in lockere Gespräche vertieft, die in Kürze im Stakkato des Atmens untergehen. Man ahnt sie ebenso in Scharen hinter sich, wartet darauf, dass die ersten ein Tempo anschlagen, das einem die eigenen Grenzen aufzeigt. Der Adrenalinspiegel steigt auf ein wohlig-kribbelndes Maß. Und über allem thront der Ventoux, Geröllfeld, Mondlandschaft, Solitär. 

Wie schon im Zug nach Nîmes bin ich auch hier der Außenseiter mit meinem Gepäck. Man verschafft sich Respekt damit, aber man macht sich keine Freunde. Ist man zu langsam, ist einem das Mitleid der Kollegen sicher, ist man zu schnell, zieht man sich rasch Unmut zu. Geredet wird, sobald die berüchtigten 10-Prozent-Passagen das Geschehen prägen, kaum mehr als notwendig. Beine, Körperhaltungen und Gesichter werden taxiert, ehe man das nächste Hinterrad ziehen lässt oder jeden Versuch abwehrt, dass sich jemand am eigenen Hinterrad festbeißt. 

Der Mont Ventoux ist kein gewöhnlicher Anstieg. Die Mythen, die um diesen gewaltigen Steinhaufen ranken, erwecken ihn zum Leben. Sie machen einen Gott aus ihm, einen Gott im griechischen Sinne: nicht der gute Gott des neuen Testaments, sondern der unberechenbare der griechischen Tragödien, der Tribut fordert, um bei Laune gehalten zu werden. Ihm huldigen wir alle, die wir uns nun keuchend in einem kollektiven Opferritual an seine Flanken werfen. Möge er uns gnädig sein.

Vor dem Tom-Simpson-Gedenkstein hat sich eine Gruppe Italiener fürs Fotoshooting aufgebaut. Hätte Simpson, statt sich mich einem Cocktail von Heroin und Amphetaminen vollzupumpen, seine Großmutter erstochen: sein Ruf hätte genauso wenig darunter gelitten. Die Tatsache, dass er am Vontoux tot vom Rad gefallen ist, macht ihn zum unsterblichen Märtyrer. 

Der Mistral des gestrigen Nachmittags war nichts als ein kleiner Vorbote dessen, was uns heute erwartet. Bis zum Châlet Reynard bleibt er moderat. Je mehr man aber über sich hinauswächst, je näher man sich zum Gipfel wagt, umso stärker erfassen einen die Windböen. Unberechenbar. Ich frage mich, warum die Entgegenkommenden fast im Schritttempo fahren. Als ich dann im Wind stehe und keinen Zentimeter vorankomme und mich in einem plötzlichen Ruck eine Böe zur Seite schleudert, während das Auto neben mir noch rechtzeitig zum Stehen kommt, wird mir die Gewalt erst richtig bewusst. Der Kampf ums Ankommen wird zu einer persönlichen Sache zwischen einer antiken Gottheit und dem modernen Menschen auf zwei Rädern. Ich habe ihn gewonnen. Man könnte das ebenso gut bedauern. 

Die Aussicht ist überwältigend. Weit unter mir streben Dutzende von Radfahrern dem gleichen Ziel entgegen: vom Rad absteigen und einfach nur hier oben stehen und den Moment genießen, wie einem die Welt rundum dank des eigenen Vermögens zu Füßen liegt.

Der Großteil meines Tagespensums liegt noch vor mir, als ich mich gegen elf Uhr auf die Abfahrt begebe: der Weg bis in die Gorges du Verdon. Hunderte kommen mir noch entgegen: zielstrebig, verbissen, locker, gezeichnet, am Ende. Unterhalb hat sich ein Fotograf postiert, der all die Gesichter festhält. Die Bilder erzählen von zahllosen Leidensgeschichten. (Sie werden für viel Geld im Netz zum Kauf angeboten). LavendelblüteDas irdische Dasein kündigt sich wieder an durch diesen feinen Geruch, wie ihn die Seekiefern unter der Mittagssonne verströmen. Kurze Pause in Sault, neben Bédoin und Malaucène der dritte und einfachste Startort für die Bergbesteigung.

Es folgt ein Szenenwechsel: der Reisende taucht ein in die pittoresken Landschaften der blühenden Lavendelfelder. Und wieder dieser spezielle Geruch. Wollte man die Provence mit ihrem ureigensten Charme festhalten: es gäbe um mich herum Postkartenmotive zuhauf. Der Duft , den die Lavendelblüte verströmt, lässt sich mit käuflichen Essenzen konservieren. Jedoch: es ist nicht dasselbe, ob die Nase im Wind steckt (der nun von hinten weht), oder in einem Flacon.

EPO: eau, Pastis, OlivenMein Plan ist, bis etwa 14 Uhr durchzufahren, bis sich die Mittagshitze wie Blei auf die Glieder legt, und dann für ein, zwei Stunden zu entspannen. Meine Pause fällt auf Forqualquier, wo ich im Stadtgarten Boulespieler bei ihrem höchst faszinierenden Treiben verfolge. Eine Dame ist mit von der Partie, die sich per T-Shirt-Aufdruck ohne Umschweife zu ihrer Form des Dopings bekennt: EPO. E steht für Wasser (eau), P für Pastis, O für Oliven. Man muss neidlos anerkennen, dass sie mit ihren Kugeln blendend umzugehen weiß.

Gegen Abend nähere ich mich dem Lac Sainte-Croix, einem der sicherlich schönsten Stauseen Frankreichs. Ein Großteil des Ufers ist nur zu Fuß zugänglich. Bei Waldbränden dient er den Löschflugzeugen zur Wasseraufnahme. Dem Hörensagen nach sollen bereits im See vermisste Taucher in den Brandzonen wieder aufgetaucht sein, jedenfalls deren Reste. Davor liegt noch Riez, das ich im Verdacht habe, als Kulisse für den sehenswerten Film Les quatre saisons d'Espigoule gedient zu haben. Es ist reine Spekulation, sagt aber viel über den bezaubernden Charakter dieser Kleinstadt aus. Gorges du Verdon, Lac Ste. Croix

Für die verbleibenden zwanzig Kilometer von Moustiers-Ste.-Marie bis hoch nach La Palud habe ich 90 Minuten einkalkuliert - gerade genug, um noch rechtzeitig am Zielort ein offenes Geschäft zu finden. Es wird eng: immer wieder halte ich an, um den Blick über den See im Abendlicht zu genießen, um ein Foto zu machen, um einen Blick in die verstörenden Schluchten des Verdon zu werfen: fast senkrecht ragen sie über Hunderte von Metern über dem Abgrund auf.La Palud, am Zelt

Der Campingplatz von La Palud wird vor allem von Kletterern frequentiert. Erfreulich für unsereinen: Wohnmobile oder Wohnwagen führen hier ein geduldetes Schattendasein. Auf dem Platz ist die ursprüngliche Form des Campierens vorherrschend: bunte Zelte verteilen sich über den Platz wie Feldblumen in einem Biotop. Der fast volle Mond begibt sich auf seine Wanderung quer über den Sternenhimmel. Ein prallvoller Tag ist zuende.

 

Strecke:

182 km

Zeit:

8:50 h

Schnitt:

20,6 km/h

Höhendifferenz:

3440Hm

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