Auf der Strecke geblieben

ARA Breisgau: 200 Kilometer     Freiburg, 16. April 2016, 8:30 Uhr


Der Regen, so hieß es, würde heftig werden und käme von Westen. Für den heutigen Samstag sind die stärksten Schauer dieses Jahres angekündigt, aber das heißt es ja häufig vor dem Breisgau- oder irgendeinem anderen Brevet im badischen Grenzland zur Schweiz und zu Frankreich und ist insofern nun wirklich nichts Ungewöhnliches. Dass der Regen von Westen käme, daran glaube ich nicht. Er kommt aus Nordwest. Er kommt genau von dort her,  wo vor ein paar Tagen die Nachricht vom Tod meines Weggefährten Richard Ellis ihren Ausgang nahm. Richard Ellis war Engländer.

Seit diesem Augenblick herrschen englische Verhältnisse in mir, Niederschläge fallen Tag und Nacht, davor schützen weder Regenjacke noch Überschuhe. Es nützt nichts, zuhause zu bleiben, die Feuchtigkeit durchdringt alle Ritzen, alle Poren, steigt in die Augen. Selbst die Aussicht, diesem Elend mit unserer gemeinsamen Leidenschaft, dem Radfahren, für die Dauer von zweihundert Kilometern zu entrinnen, bewirkt keine Wunder. Eher schon die Hoffnung auf die Stallwärme, wie sie im Kreise der Gleichgesinnten bisweilen entsteht.

Über dem Osten Freiburgs braut sich an diesem Morgen das angekündigte mittelschwere Gewölk zusammen. Wie die meisten ziehe ich mir die Regenjacke über, als der für gewöhnlich herbeigesehnte Moment gekommen ist, das Augustiner, den Sammelpunkt der Randonneure, nach dem gemeinsamen Frühstück zu verlassen und den jungen, bereits ergrauten Tag unter die Räder zu nehmen. Auch Richard hatte sich am vergangenen Sonntag bei der Zweihundert-Kilometer-Strecke des Audax UK im Süden Englands sicherlich die Regenjacke übergestreift: das Polizeifoto im Internet zeigt nasse Straßen. Auf der darauf abgebildeten Kreuzung endete sein letztes von zahllosen Brevets.

Wir trafen uns zum ersten Mal 2011 unter der milden Herbstsonne der Provence beim Mille du Sud und in allen darauf folgenden Jahren sahen wir uns dort wieder. Kameradschaftlich teilten wir uns Tausende von Kilometern und einen Gutteil der Strapazen, die im Nachhinein gar keine waren. Dieses so Erlebte vergisst man nicht, es lebt mit uns weiter, und man will nicht glauben, dass es ein Ende haben könnte damit, aber ich wurde eines Besseren belehrt.

 Wenn die erste Schockstarre überwunden ist, dann dämmert einem, dass Radfahren wirkungsvoller ist, als einfach loszubrüllen. Die stumme Verzweiflung mit Gewalt wegtreten und dort, wo die Rampen hinauf zu den Höhen des Schwarzwaldes besonders steil sind, röcheln wie ein verendender Fisch. In Kauf nehmen, dass mir die Gischt des Vordermannes ins Gesicht spritzt, und wenn es aussieht, als wäre es tränenüberströmt, ist es auch egal. Mich in Freiamt bis auf die Knochen durchtränken lassen vom Starkregen und von den Windböen fast vom Rad zerren lassen. So ist es leichter, das Unbegreifliche zu ertragen. Ich wundere mich, wie wenig mir weh tut: die Beine sind unempfindlich und arbeiten gewissenhaft, als wollten sie für jemanden mittreten, der nie wieder die Freuden erleben wird, auf einem Rad zu sitzen. Mein Herz ist eingeschnürt, aber es schlägt so fest, als wollte es für einen anderen mitschlagen, dessen Herz nie wieder schlagen wird, weder vor Freude noch vor Anstrengung. Meine Finger umklammern den Lenker mit dem schwarzen, vom Regen durchtränkten Band, als wollten sie jemanden zurück ins Leben ziehen, der nicht mehr zurückkommt. Der Regen ist weder warm noch kalt: er hat überhaupt keine Temperatur. Mein Körper ist wie gepanzert. Es sind die Widrigkeiten, die mich zusammenhalten.

Anders als sonst suche ich das Rudel. Ich beeile mich oder verlangsame meine Fahrt, wenn sich die Gelegenheit bietet, Anschluss zu finden, und bin froh, als ich nach einer Reifenpanne in der Rheinebene nicht alleine weiterfahren muss, weil unsere kleine Gruppe auf mich wartet und mir routiniert zur Hand geht. Rasend schnell sind wir wieder unterwegs.

Ein Zweihunderter ist – über das Eigentliche hinaus – nur ein Einstieg, ein Versprechen von Glück und Pein, die sich mit jeder weiteren Langstrecke in der Serie steigern. Richard verstand es, die Pausen und die Phasen des Glücks still zu genießen, und fürchtete nicht die Mühen, die ihn erwarteten – die uns in den besten Tagen gemeinsam erwarteten. Ein Zweihunderter ist eine Rechnung, die man aufmacht und die Brevet um Brevet beglichen wird. In aller Bescheidenheit hätte er sie beglichen. Und am Ende der Saison hätte uns wohl wieder der Mille du Sud zusammengeführt und wieder wären unvergessliche Tage hinzugekommen mit britischem Humor und einer Leichtigkeit, wie sie nur im Süden gedeiht. Vor der Zeit wurde er von seinem schimmernden, filigranen Fahrzeug gerissen. Er wird mir sehr fehlen.

Auf unseren Langstrecken in der Provence sprachen wir gerne über den Nebel in England, und Richard war dabei nie um einen Witz verlegen. Wir hatten es auch vom Black Forest, aber soweit ich mich erinnere, war er niemals in unserer Gegend, obwohl ihm die Berge gewiss sehr gefallen hätten – und die Sonne, die hier wärmer scheint als in seiner Heimat nördlich der Kanalküste, falls sie dort überhaupt je durch die Wolken dringt – letzte Zweifel daran hat er nie ausgeräumt. Heute jedoch verweigert sie sich auch hier. Unter dem tief hängenden badischen Himmel scheinen mir die kleinen Straßen verloren und sinnlos. Ein solches Gefühl lässt sich nicht einfach abstreifen, es klebt an einem wie Kettenschmiere und Witze dazu wollen mir nicht einfallen, und so wird das Treten am Ende mühselig, die Zeit kriecht dahin, was nicht stimmt, denn selbst in den schwierigen Momenten, wo einem die Strecke schier unendlich vorkommt, vergeht sie schneller, als die Schwerfälligkeit der rotierenden Laufräder glauben lässt. Immer ist da ein lichter Horizont, dem man zustrebt, der einen antreibt, bis sich eines Tages, den man noch fern wähnt, der Horizont pechschwarz verfärbt und die Dinge endgültig geworden sind. Dann erst steht die Zeit still. Bis dahin gilt es durchzuhalten, auch wenn die Gefährten weniger geworden sind. 

Selbst wenn an diesem Samstagabend im Ziel alles so wirkt wie nach jedem Brevet, wenn die Augen leuchten, die Trikots diese einzigartige Mischung von Regen und Schweiß absondern und das Bier das Erlebte in manche Steigerungsform hineinhebt: etwas ist für dieses Mal anders. Es ist einer auf der Strecke geblieben. Der Schmerz jedoch, der sonst auf der Strecke bleibt: er hält an. 

1  |  2  |  3  |  4