Das Paar zu meiner Linken gab sich im Großen und Ganzen vorbildlich: ordentliche Körperspannung, gepflegtes Wanderoutfit, vermutlich SUV unten auf dem Parkplatz, klare Ansagen: Wir würden uns gerne auf diese Bank hier setzen. Es ist die Bank auf der ich mich niedergelassen hatte. Da drüben wären auch noch freie Bänke..., wagte ich zu bemerken, schäbig wie ich bin, aber klar, diese Sitzgelegenheit musste es sein, mit dem Blick auf den Feldberg. Ich raffte also meine Sachen zusammen, um einem sozialen Miteinander Platz zu machen. In wohlgeformten Worten ergründeten sie daraufhin - so weit ich folgen konnte - die geographischen Partikularitäten des Schwarzwaldes. Ihre ebenso wohlgeformte erwachsene Tochter, die sich zu unseren Füßen im Gras mit interessanten gymnastischen Übungen bei Laune hielt, würdigten sie keines Blickes.
Ich dachte, es sei eine geniale Idee, zur spektakulärsten Mondfinsternis dieses Jahrzehnts auf das Herzogenhorn zu fahren, einem Nachbargipfel des Feldbergs, und dort diese Sommernacht zu verbringen, aber angesichts meiner Nachbarn kamen mir langsam Bedenken. Immer mehr Menschen fanden sich, mit Rucksäcken beladen, auf dem Gipfel ein, zu Fuß – der nächste Parkplatz war glücklicherweise kilometerweit entfernt.
Beizeiten wechselte ich zur nächstliegenden Bank, wo ich meine Utensilien und mein Abendessen bedarfsgerecht auslegen konnte – ich war hungrig. Mit dem Rad waren es keine zwei Stunden von mir zuhause, aber ich fühlte mich wie im Urlaub. Wie bei einem Musikfestival breiteten die Zuschauer Decken auf dem Boden aus, drapierten sie mit Broten, Salaten und sonstigen, allen erdenklichen Esswaren und angelten Bierdosen und Weinflaschen aus den Rucksäcken. Der Star heute Abend kam nicht aus dem Showbusiness, sondern es war der gute, alte Mond, der für die nächsten Stunden im Kernschatten der Erde verschwinden würde.
Im Dunst des Abends war am Himmel zunächst allerdings nichts, aber auch gar nichts von ihm zu sehen, was der Stimmung jedoch nur wenig Abbruch tat. Dann, im Dunkel der Nacht endlich zeichnete sich ganz zart und schemenhaft der Mond ab. Ein leises Ach! und Ooooh! ging durch die Reihen. Kameras wurden in Stellung gebracht. Auch ich nippte an meinem Becher mit Wein und versuchte, die rötlich angehauchte Finsternis zu erahnen und ein Lied aus Kindertagen wolle mir nicht aus dem Kopf, guter Mond zu gehst so stille in den Abendwolken hin, und irgendwie brüderliche Gefühle verbanden mich mit dem solitären Erdtrabanten.
Mein Paar mit ihrer Tochter im Gras hatte ich im Trubel aus den Augen verloren. Unweit von mir lagerte eine fünfköpfige Familie, deren Oberhaupt es sich zur Aufgabe gemacht hatte, seine Brut mit seinem durchdringenden Bariton um jeden Preis zu bespaßen.
Als es auf Mitternacht zuging, hatte sich der Dunst verzogen, die Sterne leuchteten hell und klar, die Raumkapsel von Alexander Gerst rauschte hin und wieder durchs Bild und der Mond trat allmählich wieder aus dem Kernschatten der Erde heraus und begann scharfkantig zu strahlen und matt glänzte neben mir mein Rad. Wir verstehen uns auch schweigend. Ohnehin verbiete ich ihm jede laute Äußerung und rücke gegebenenfalls mit Werkzeug und Fett zu Leibe, womit bei meinen lieben Mitmenschen allerdings nur in Ausnahmefällen etwas auszurichten wäre, leider.
Die Familie in meiner Nachbarschaft machte endlich ernsthafte Anstalten, das Terrain zu räumen. Die Stimme des Oberhaupts, zwischenzeitlich unter der Wirkung des Alkohols zum trompetenartigen Tenor mutiert, hieß seine Töchter, sich in Abmarschformation zu begeben. Nach und nach strömten auch die anderen Festivalbesucher wieder nach unten, zurück zu den Parkplätzen. Nur noch vereinzelt verweilten ein paar versprengte Individuen auf dem Gipfel des Herzogenhorns. Es kehrte Stille ein. Ich leerte meine Tasche, bließ die Isomatte auf und rollte sie auf der Bank aus. Ob es wohl gestattet ist, hier im Naturschutzgebiet zu nächtigen? Wenn ich die ganze Nacht hier wach bliebe, würde ich gewiss gegen keine Vorschriften verstoßen, warum also, fragte ich mich, wenn ich die Augen zumache? Dann kroch ich in den Schlafsack.
Die Tage im Juli beginnen früh, und nach fünf, sechs Stunden Schlaf hörte ich die ersten Wanderer über die Kuppe traben – sechs, sieben gutgelaunte Frauen, die vor fast zwei Stunden im Tal losmarschiert waren. Sie ließen sich im Gras nieder, machten ihre Späße und boten mir Kaffee aus der Thermoskanne an, was ich wirklich nett fand. Trotzdem lehnte ich ab und genoss lieber nüchtern und konversationsfrei die ersten Sonnenstrahlen.
Warmer Wind setzte ein, zu böig, um hier meinen Kocher in Betrieb zu nehmen. Der Mond hatte die Seite gewechselt, stand blass und voll am Himmel, als wäre der gestrige Abend nur ein merkwürdiger Traum gewesen. Aus einer plötzlichen Eingebung heraus meldete sich eine Stimme in mir, um zu sagen, dass ich allen Grund hatte, zufrieden zu sein.
Dann schnallte ich meine Tasche ans Rad und machte mich an die Abfahrt. Die Reifen knirschten auf dem Kies der Waldwege: welch zauberhafte Morgenmusik! Es gibt Momente, da passen Mensch und Maschine wundervoll zusammen. Meine Talfahrt endete an einer Quelle am Rande einer Lichtung. Daneben stand windgeschützt ein grob behauener Tisch – ein kühler, schattiger Ort und geeignet, um Kaffee zu kochen und ein paar Schokokekse zu essen. Ich fühlte mich, als wäre ich in den Kernschatten der Erde eingetreten. Und weit und breit keine Zuschauer. Oben am Waldrand äste ein Reh. Als ich meinen Becher vom Kocher nahm und wegen der heißen Griffe etwas zu ruckartig auf dem Tisch abstellte, blickte es auf und verschwwand zwischen den Bäumen. Scheue Viecher, diese Rehe. Blieb also noch mein Rad. Genüsslich schwiegen wir uns an.
März 2019