Mulhouse, 4. Mai 2003, 3.00 Uhr
Mit einem Mal läuft es. Plötzlich signalisiert dieses müde Bündel von Muskeln und Knochen, das bis vorhin nichts mehr verlangte, als endlich wieder in Ruhe gelassen zu werden, seine Kooperationsbereitschaft mit dem Kopf. Kurz nach dem Col d'Urbeis mit seinen 600 Metern Höhe ist es soweit: der Kreislauf, angeregt durch die Steigung und den Kaffee im Tal, hat Blut geleckt.
Unten, in Villé, hatten wir uns den ersten Stempel in die Karte geben lassen, in einem Salon de Thé zwischen idyllischen Fachwerkhäusern und Pflastersteinen, dem einzigen Geschäft, das an diesem Sonntagmorgen zu früher Stunde schon von Leben zeugte. Trotz der Tatsache, dass noch drei Viertel der Strecke vor uns liegen, wäre es ein Einfaches gewesen, sich der Müdigkeit hinzugeben, den Moment in dieser wohligen Atmosphäre bei Milchkaffee und Croissants zu genießen. Wäre nicht dieser Radlerkollege knapp fünfzigjährig, Typ Bergfahrer zu uns gestoßen.
Wir waren also nicht die Letzten, wovon wir fest ausgegangen waren nach dem chaotischen Vorspiel dieser Tour: Verabredet auf 1.45 Uhr, irre ich eine halbe Stunde später durch die Straße meines Mitstreiters Axel Wellpott und finde am zweiten Hauseingang zufällig seinen Namen auf dem Klingelschild. Auf mein Klingeln kommt er mir völlig konsterniert im Treppenhaus entgegen, frisch aus dem Bett, wirft seine Sachen in einen Rucksack, schnappt sich sein Rad, das die Ehre hat, mit ihm das Zimmer zu teilen, und zehn Minuten später sind wir auf dem Weg zum Auto, das uns nach Mulhouse bringen soll. Wir fahren los, ein verdächtiges Krachen bei der Einfahrt auf die Straße lässt uns sofort stoppen. Ein Torbogen hat an Axels Sattel geschürft; nur wenige Millimeter fehlen, und das zweite Brevet hätte an dieser Stelle vermutlich ein vorzeitiges Ende gefunden. Als wir uns dann den Peugeot-Werke kurz nach drei Uhr nähern, kommen uns die Gruppen der Nachtfahrer bereits entgegen: Fahrradleuchten, reflektierende Westen, Stirnleuchten, reflektierende Streifen auf Schuhen, Trikots und Rucksäcken. Der Rest ist Dunkelheit.
Am Startpunkt ist es bereits sehr ruhig geworden, einzig zwei Mitglieder der Organisation sitzen an ihrem Tisch im Vereinsheim, reichen uns die Kontrollkarten, fordern uns auf, noch eine Tasse schwarzen Kaffee zu trinken, ehe wir aufbrechen. Auch der Mann vom Ordnungsdienst begibt sich zu ihnen ins Warme, draußen hat es empfindlich abgekühlt. Um 3.40 Uhr machen wir uns auf in die Nacht.
Wir fahren uns schweigend warm, konzentrieren uns auf das Stück Asphalt im Scheinwerferkegel. Die Strecke bis Neuf-Brisach haben wir vom letzten Brevet noch im Gedächtnis, auch wenn in der mondlosen Finsternis nur wenig daran erinnert. Auf meinen Wunsch hin ist das Tempo sehr verhalten, fast meditativ. Der imposante Sternenhimmel lenkt unsere Blicke immer wieder nach oben. Ich friere - ich habe die Kälte unterschätzt.Im Osten bricht sich der neue Tag Bahn, wie Scherenschnitte heben sich die Berge des Schwarzwalds und des Kaiserstuhls gegen das fahle Licht ab. Vorboten eines großartigen Tages. Der gleichmäßige Rhythmus macht mich müde. Ich habe große Bedenken, ob mein Kniegelenk die insgesamt 300 Kilometer dieses Tages heil übersteht, die Müdigkeit raubt mir jeden Willen. Ich spüre den Druck, durchzuhalten, und schwanke zwischen der Befürchtung, womöglich bald schon vom Rad steigen zu müssen, und der Schönheit des Moments, einzig bemüht, die Augen offen zu halten und die Kälte des frühen Tages zu ignorieren. Unnötig zu erwähnen, dass ich vergangene Nacht zwischen zehn und ein Uhr kein Auge zugemacht habe. Danach ging der Wecker.Wie gerne würde ich mich irgendwo ins Gras legen, nur für fünf Minuten! Nach knapp fünfzig Kilometern in nördlicher Richtung drehen wir ab Richtung Nord-West, durchqueren Séléstat, fahren auf gut ausgebauten, ausgestorbenen Straßen bis Villé, dem ersten Kontrollpunkt.Nun also dieser Radlerkollege am Nebentisch. Mit gewichtiger Miene erklärt er uns seine langsame Fahrweise: er sei letzte Woche das Zweihunderter-Brevet in der Champagne gefahren und da ginge es, bei all den Hügeln, richtig zur Sache... Das erste Brevet hier sei, mit Verlaub, ein Witz, im Übrigen habe er allein schon wegen der Fernsehübertragung von Paris-Roubaix nicht daran teilnehmen können. Trotz der frühen Stunde lässt er verbal nicht locker. Beim Gehen deutet er auf unsere Helme: Ich werde mich nun auch daran gewöhnen müssen. Vermutlich, weil die Helmpflicht für Profis eben eingeführt worden ist. Unsicher, ob es der Anstand gebietet, auf ihn zu warten, bin ich doch froh, als wir vor ihm weiterfahren.Die Route führt über kaum befahrene Straßen, durch kleine, friedliche Siedlungen, grüne Landschaften im Morgenlicht. Wir gleiten durch einen mir unbekannten Teil der Vogesen. Axel wird unruhig, er würde gerne das Tempo erhöhen, ich bestehe aber auf das gelenkschonende Touristentempo, auch wenn auf diese Weise wenig Aussicht besteht, zu anderen Startern aufzuschließen.
Der zweite Stempel in Rambervilliers, um elf Uhr markiert fast die Hälfte: 141 Kilometer. Ein sympathischer Glatzkopf in einem Schreibwarengeschäft kann es sich nicht verkneifen: die Jüngsten kommen zuletzt, feixt er. Offensichtlich reichten ihm die Ersten schon vor zweieinhalb Stunden ihre Stempelkarte über den Tresen.
Von jetzt ab geht es wieder Richtung Süden und es wird heiß. Ein stetiger Anstieg bis Gérardmer gibt den Beinen Futter. Vor der ersten Gaststätte am Ortseingang von Gérardmer sehe ich eines der beiden Tandems, das mir beim letzten Brevet bereits aufgefallen war. Zusammen mit zwei, drei anderen Randonneuren sitzt das Paar vor einem Tisch voller Tellern, Bier- und Oranginaflaschen, Wasserkaraffen. Wir begrüßen uns als Kollegen, der Wirt, dem wir die Stempelkarte reichen, bemerkt süffisant zum Tisch seiner Gäste hin: "Voilà la concurrence!"
"On n'est pas des concurrents, on se partage l'aventure!" - Wir sind keine Konkurrenten, wir teilen uns das Abenteuer, antwortet die weibliche Hälfte der Tandembesetzung. Hätte man es schöner sagen können?
Kurz darauf, auf dem Weg nach Le Tholy, vorbei am Lac de Gérardmer, schlägt uns aus einem Restaurant der Duft holzofengebackener Pizza entgegen. Eine Herausforderung. Wir nehmen aber, kurz darauf, mit unseren verbleibenden Brötchen vorlieb. Zeit für kurze Hosen, Zeit, sich noch einmal mit Sonnenmilch einzucremen. Ein Gefühl fast wie Urlaub. Nach dem ersten Brevet hätte ich heute früh keinen Heller drauf gegeben, dass ich zu dieser Stunde noch auf dem Rad sitze, vor allem schmerzfrei. Einigermaßen schmerzfrei, denn irgendwo tut es nach zweihundert Kilometern immer weh, sei es im Nacken, im Rücken oder an den Fußsohlen. In Remiremont, bei Kilometer 211, bin ich froh, für den nächsten Stempel noch einmal vom Rad steigen zu können. Am Eingang des Stadtzentrums finden wir ein chinesisches Restaurant. Es braucht Geduld, der misstrauischen Bedienung den Sinn unseres Anliegens klar zu machen. Endlich ruft sie ihren Chef und Ehegatten, der unsere Kontrollkarte selbst in Augenschein nimmt. Ob er uns für die Steuerfahndung hält? Es gelingt mir, ihn von der Harmlosigkeit der Aktion zu überzeugen, bis er uns für asiatische Verhältnisse fast schon überschwänglich den Stempel seines Etablissements ins Heft drückt. Der Schweiß in unseren Gesichtern und in den Trikots dürfte ihn beruhigt haben. Auch in Frankreich stehen Steuerbeamte nicht im Ruf, sich zu verausgaben.
Die Müdigkeit des frühen Morgens kehrt zurück, auch das Brennen der Fußsohlen schafft keine Abhilfe dagegen. Als würde sich der Geist in eine Hundehütte zurückziehen, vor der die Landschaft vorbeizieht, so nehme ich, wie durch eine Luke, das Geschehen rund um mich herum war. Das Geschehen: ein Radweg, der sich über 30 Kilometer hinzieht, gespickt mit Barrieren und Hindernissen, mit Kindern, Kinderwagen, Hunden, Inlineskatern, Omas, Opas, Fußkranken, Tauben und Blinden. Alle haben sie nichts anderes im Sinn, als diesen wunderschönen Sonntag an der frischen Luft genießen.Ganz anders eine Bande Jugendlicher in Bussang. Vor den öffentlichen Toiletten machen wir Rast, während sie unten in den gefliesten Kellerräumen der Bedürfnisanstalt mit erhitzten Gesichtern ihre Spiele spielen.
Den Col de Bussang mit seinen 727 Metern Höhe nehmen wir angesichts der 245 Kilometer in den Beinen mit Leichtigkeit, ich fühle mich beschwingt, mein Geist ist wieder etwas aus der Hundehütte hervorgekrochen. Nun habe ich keine Zweifel mehr, dass ich auch das zweite Brevet schaffen werde. Nach Mulhouse geht es überwiegend bergab - wir verlassen die Vogesen. Zur Freude von Axel verschärfen wir endlich das Tempo, jagen durch die Dörfer und Vorstädte von Mulhouse, verfahren uns, treffen auf Kollegen (ersichtlich an den großen Lenkerbeuteln), lassen uns von ihnen den Weg durch die Stadt zeigen, verfahren uns noch einmal und rollen endlich, nach über dreihundert Kilometern, wieder im Stade Peugeot ein.
Kurz nach uns kommt jener Mitstreiter an, fünfzigjährig, der uns den Weg durch Mulhouse gezeigt hat: mit schwerem, eckigem, von Erschöpfung gezeichnetem Tritt haben wir ihn auf der Strecke aufgelesen und bald schon hinter uns gelassen; sein Strahlen, als er ins Ziel kommt, spricht Bände.