Donnerstag, 31. März 2011
| Strecke |
200 Kilometer werden für unsere Nachfahren ein Klacks sein. Sie konzentrieren sich für einen Moment, es wirbelt etwas Staub auf - vielleicht dass noch ein paar Funken sprühen - und schon sind sie da, wo wir heute gerne hinkommen würden. Auch für uns sind nach den letzen zwei harten Tagesetappen 200 Kilometer ein Klacks, darin besteht mit den kommenden Generationen aller Vorraussicht nach Einigkeit. Mit Konzentrieren allein ist es bei uns allerdings nicht getan, und schon gar nicht so früh am Morgen. Für zweihundert Kilometer braucht es bei uns neben einer ordentlichen Portion Kaffee in der ersten offenen Kneipe in St. Marcellin noch ein bisschen Beinkreisen und eine gehörige Portion Zuversicht. Daran soll es nicht scheitern.
St. Marcellin ist ein wirklich nettes Städtchen mit mindestens einer Sportstätte, die für ihre Übernachtungsqualität von mir drei bis vier Sterne bekommt. Bei Morgendämmerung verlassen wir es in südlicher Richtung , schnurstracks in Richtung Pont-en-Royan, am Fuße des Vercors. Das Vercors ist das Sahnehäubchen auf unserer Tour, und ich bin sehr froh, dass wir es uns nicht so leicht machen wir zukünftige Generationen. Das kann ich zu dieser Stunde ganz locker behaupten, denn mein Knie hat sich über Nacht weiter erholt. Wir sähen nicht die schroff zum Fluss abfallenden Häuser im Zentrum Pont-en-Royans. Wir verpassten die herrlich grünen Landschaften und die Obstblüte. Wir hätten nicht diese feinen Anstiege, die uns die Körperlichkeit unserer Existenz in Erinnerung rufen. Kurz: wir wären die ärmsten Menschen der Welt. So aber werden wir den ganzen Morgen über beschenkt mit dem Reichtum der Natur, selbst die Sonne zeigt sich großzügig, und die langen Handschuhe verschwinden zeitig in den Trikottaschen.
Man könnte das Vercors mit allerlei Superlativen schmücken, aber für mein Gefühl wäre es diesem Landstrich, der seine Schönheit so bescheiden und unprätenziös zum Besten gibt, nicht angemessen. Man rollt hindurch, staunt und freut sich seines Daseins an diesem schönen Frühlingstag. Über den Kuppen leuchtet das blendend weiße Licht des Südens. Mich erfüllt Vorfreude. Das Treten wird zum ungetrübten Vergnügen.
Aouste liegt im Tal der Drôme und wir erreichen das Tal noch rechtzeitig vor dem mittäglichen Ladenschluss. Das Vercors liegt schon wieder hinter uns, dafür sehen wir mit Spannung den nächsten Hügeln entgegen: über den Bergkämmen haben sich dicke Wolken angestaut und Böen fegen ungehörig durchs Tal. Zunächst aber ist Mittagsrast angesagt.
Am Ende wird wieder alles halb so schlimm. Auf dem letzten Stück nach Süden vergießt der Himmel ein paar Regentropfen, die nicht der Rede wert sind. Was sind wir doch für Glückspilze! Während wir die Anstiege der Drôme mit Anstand hinter uns bringen, zerfasert die Wolkendecke allmählich wieder. Gegen 15 Uhr rückt der Mont Ventoux ins Blickfeld. Für diesen Moment haben wir zweieinhalb Tage gestrampelt. Noch thront sein Gipfel in der Ferne, aber wir spüren seinen kalten Hauch. Er macht frösteln.
Ohne weitere Pause jagen wir an Vaison-la-Romaine vorbei, werfen nicht einen Blick ins Zentrum von Malaucène und hetzen weiter bis Bédoin. Um 16.15 Uhr, nach exakt 60 Stunden Einsatz, sind wir am Ziel - fast. Denn oben sind wir noch nicht. Seine Majestät geruht heute, sich mit dunklen Wolkenschleiern zu verkleiden, hinter einem leuchtend bunten Regenbogen. Oben wird gefeiert, kein Zweifel. Das bedeutet in diesen Kreisen Sturm und Hagel. Die Zaungäste im Tal begnügen sich mit den Brosamen: Windböen, die durch die Straßen der Stadt fegen.
Wir wollen uns heute mit den Brosamen zufrieden geben und stellen das bisschen, was wir an Zelt dabeihaben auf den städtischen Campingplatz, der seine Pforten seit zwei Wochen geöffnet hat. Wir nehmen eine Dusche. Wir waschen unsere stinkenden Klamotten. Wir streifen uns zum ersten Mal Zivilkleidung über. Wir bestellen im Ort eine Lage Pastis und stoßen an, auf das Vergangene und auf den Moment, wo wir oben stehen. Alles ist vorbereitet für das große Ereignis, das wir auf morgen vertagt haben: die Befahrung des Mont Ventoux.
Zum Abend hin klart der Himmel auf. Unsere hungrigen Mägen bekommen endlich, was sie verdient haben: eine nette kleine Mahlzeit in einer Pizzeria. Dann noch eine Karaffe Wein hinterher im Bistrot. Die Welt versinkt in Gemütlichkeit. Als die Kneipe zumacht, bin ich so frei zu fragen, ob uns der Kellner die beiden Weingläser bis morgen ausleiht. Kein Problem. Er muss uns ansehen, dass wir etwas zu feiern haben.
Eine Flasche Rosé wartet auf dem Campingplatz noch auf uns, und wir stoßen ein letztes Mal an, während mein Blick zum Himmel wandert und die zahllosen Sterne aufsaugt. Die Vorzeichen für morgen stehen günstig.
Strecke: |
175 km |
Zeit: |
8:23 h |
Schnitt: |
20,9 km/h |
Höhendifferenz: |
2191 Hm |