Richtige Männer

ARA Breisgau: 300 Kilometer     Freiburg, 30. April 2016, 8 Uhr


Früher hielten es die richtigen Männer noch aus, einfach dazusitzen, ein Bier nach dem anderen zu trinken und über Stunden stumm und gedankenverloren vor sich hinzustieren. Sie hatten verstanden, worum es im Leben wirklich geht: um die einfachen Dinge. Also trinken, essen und und günstigenfalls noch ein paar Angelegenheiten, die einem dann einfallen, wenn die Kinder im Bett sind. Diese entwicklungsgeschichtlich herausragende Epoche ist vorüber und der dazugehörige Menschenschlag am Aussterben, leider, und alle Selbstoptimierungsliteratur, die sich bemüht, den Mann als solches neu zu erschaffen, führt mehr oder weniger in die Irre. Warum das so ist, kann ich mir nicht erklären. Fest steht: seit auch der Mann flächendeckend sein Smartphone mit sich führt, ist es vorbei mit der Eindeutigkeit und Klarheit seines Handelns. Er versucht sich verzweifelt an der Komplexität des modernen Daseins, aber wir wissen: er kann nur scheitern.

Bei aller uns eigenen Bescheidenheit möchte man als Randonneur an dieser Stelle jedoch gerne den Finger heben und anmerken, dass es sie, allem Anschein zum Trotz, noch gibt, diese Männer, die sich auf die einfachen Dinge im Leben verstehen. Es sind eben die, die sich beispielsweise am 30. April frühmorgens zum Brevetfahren einfinden. Natürlich klappt das nicht bei allen – und hier wird bereits die Spreu vom Weizen getrennt. Denn wenn ein Drittel trotz Meldung erst gar nicht zum Termin erscheint, dann müssen wir davon ausgehen, dass sie wieder einmal an der Komplexität des Lebens gescheitert sind: Wunsch und Wirklichkeit wurden verwechselt. Vielleicht haben sie dummerweise dem Chef versprochen, noch bis Samstag die Unterlagen für irgendeine Firmenpräsentation von Rang fertigzustellen. Oder sie haben – als alleinerziehende Väter – das Selbstpflegedefizit ihrer Säuglinge vollkommen unterschätzt, und nun plagt sie das Gewissen beim Gedanken, den süßen Nachwuchs für dreißig Stunden mal alleine zu lassen. Oder aber sie kommen vor lauter Beiträgen in ihren Lieblingsforen und den anderen sozialen Netzwerken nicht dazu, die angekündigten Großtaten auch umzusetzen.

auf dem Weg ins MünstertalWem all dies nicht passiert ist, der schwingt sie wie üblich im Kreise der Gleichgesinnten um acht aufs Rad, um das Beste zu tun, zu dem ein Mann fähig ist: nichts denken und Radfahren.

Was ihm in diesem Zusammenhang noch gestattet sei – solange es ihn intellektuell nicht an die Grenzen bringt – ist der Blick aufs GPS-Gerät, das ihn in südlicher Richtung aus der Stadt führt, ins Münstertal, wo die steilen Anstiegen des Südschwarzwaldes ihren Anfang nehmen. Er genießt die Morgenfrische und das Gefühl der Freiheit. zum HaldenhofEr weiß, es wird ihm heute wieder viel abverlangt werden, aber dazu ist er schließlich ein Mann. Und er schraubt sich hoch, heraus aus dem engen Tal in die luftigen Höhen. Hier ist er ganz bei sich und zudem unter Seinesgleichen. Eine wundervolle Kongruenz der Gegensätze. Er rollt ins Tal, hinunter zum Rhein, müht sich von Zeit zu Zeit an der Spitze seiner kleinen Gruppe und weiß: er erobert die Schweiz im Sturm. So geschieht es auch. Der Grenzübertritt in Bad Säckingen ist die erste Zäsur dieses Tages, die Bohlen der Holzbrücke über den Rhein vibrieren unter dem Rollen unserer Räder.

Bad SäckingenDie zweite Zäsur kommt am Bölchenhaus, die Anstiege hier hoch sind selbst für gestandene Männer steil, die Glieder schmerzen und der eine oder andere nimmt dies zum Anlass, das zu tun, was er ebenso gut kann wie Radfahren: Bier trinken.

Ich für meinen Teil verabschiede mich ohne ein solches Ritual, denn es ist kein Geheimnis, dass es zum späteren Nachmittag hin regnen soll. Ich ziehe es vor, noch ein paar Kilometer im Trockenen zurückzulegen.

SoubozDer Regen setzt in Souboz ein, einem winzigen Weiler in den Jurahöhen, wo sich die zweite Kontrolle befindet. Tatsächlich gibt es Männer, die von den Formalitäten des Stempelns überfordert sind, und erst dreißig Kilometer später merken, dass da was war. Auch Brevetfahren birgt eine gewisse Komplexität in sich, mit der man als Mann umgehen muss. Wir hoffen im Interesse aller, dass der Betroffene in seinem Berufsleben vor vergleichsweise komplexen Anforderungen, wie sie etwa an Busfahrer gestellt werden, verschont bleiben möge. Auch ansonsten sollte er sein Leben möglichst einfach gestalten, wenn er nicht totunglücklich werden möchte.

Die Dame an der Tankstelle in Souboz, die dem Prozedere des Stempelns von ihrem Balkon aus beiwohnt, fühlt mit uns: wir hätten immer Pech mit dem Wetter, wenn wir vorbeikämen, ruft sie herunter. Ich frage zurück, ob es denn hier auch mal schön sei, aber diese Frage ist rhetorisch, denn vor langer Zeit hatte ich hier die Sonne bereits einmal mit eigenen Augen gesehen. Heute allerdings schon wieder nicht. Hier nicht, und nirgendwo sonst auf unserem langen Weg zurück nach Freiburg.

echte Männer im DauerregenIn diesen Stunden ist der ganze Mann gefordert, der dem eiskalten Dauerregen trotzt und sich überdies nichts daraus macht, dass ausgerechnet heute der Reißverschluss seiner Regenjacke kaputtgegangen ist. Der weiß, dass unter solchen Bedingungen seine wahre Natur auflebt. Der auf seinem Rad friert wie ein Schneider und sofort zu zittern beginnt, wenn er anhalten muss, weil er mit seinen halb erfrorenen Fingern etwas Essbares aus der Lenkertasche zerren muss, um nicht entkräftet vom Rad zu fallen, denn die Kälte – auch das weiß er – entzieht ihm die letzten Reserven. Dieser Mann weiß, dass wir nicht auf der Welt sind, um Spaß zu haben, sondern um unser Ding durchzuziehen. Und dass der einzige Weg dorthin ist, nichts zu denken. Später wird die Rede sein von Mitstreitern, die an diesem Punkt den entscheidenden Fehler begangen haben. In Delémont begannen sie, darüber zu sinnieren, dass hier ist die letzte Möglichkeit sein dürfte, den Zug zu besteigen. Logischerweise geht ein solcher Verstoß gegen die männliche Natur nicht ohne Folgen ab: Scharenweise sind sie in den Zug gestiegen.

FineIch jedoch habe durchgehalten. Habe durch die schmierigen Brillengläser mit großem Widerwillen die vollgesogenen Landschaften zur Kenntnis genommen. Wenn es noch ein paar Tage so weiterregnet, wird aller Boden weggeschwemmt werden, zum Rhein hin, die Frachtschiffe werden im Schlamm feststecken, und zu Lande wird nichts als Geröll übrigbleiben. Egal. Hauptsache ankommen. Ich habe mich ganz auf die Essenz des Daseins konzentriert. Keine Fotos mehr gemacht, denn die Finger waren taub vor Kälte. Ich vermute, in diesen Stunden bin ich dem Ideal des Mannes in seiner Glanzzeit sehr nahe gekommen, indem ich mich auf die einfachen Dinge beschränkt habe: Lenker halten, Klappe halten, zittern, das Schiff durch die Fluten steuern, nicht kentern.

Irritierend ist, dass es auch Frauen ins Ziel geschafft haben. Ich weiß nicht, wie das möglich war, denn ihr Naturell ist dem unseren ja fern und ihre Vorzüge liegen ganz woanders. Es ist, man kann es nicht anders sagen, eigentlich ein Unding.

Strecke:

308 km

Höhendifferenz:

3440 hm

Fahrzeit:

11:46 h

Schnitt:

26,2 km/h

Gesamtzeit:

13:00 h

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